Die europäischen Rechtsvorschriften enthalten eine Mindestanforderung an die Netzkapazität, die dem Markt für den Stromhandel zwischen verschiedenen Gebieten oder Gebotszonen zur Verfügung stehen muss. Dies ist die so genannte 70-Prozent-Regel. In der Praxis wird diese Regel jedoch von Land zu Land unterschiedlich ausgelegt und überwacht, was zur Folge hat, dass in einigen Ländern strengere Anforderungen gelten als in anderen. Darüber hinaus unterscheidet der derzeitige Rechtsrahmen nicht sinnvoll zwischen einer nachhaltigen Einhaltung der Vorschriften und einer scheinbaren, aber weniger nützlichen Einhaltung, die auf der so genannten "virtuellen Kapazität" beruht. Diese beiden Schwachstellen lassen Raum für künftige Verbesserungen der einschlägigen Verordnung.
Die Rechtsvorschriften, die die 70-Prozent-Regel festlegen, enthalten nur wenige Einzelheiten darüber, wie die Einhaltung der Vorschriften zu bewerten ist. Um die Lücken zu schließen, hat ACER in der Folge detaillierte methodische Leitlinien veröffentlicht und führt eine Überwachung in Bezug auf das Ziel durch. Die Durchsetzung liegt jedoch weiterhin in der Verantwortung der nationalen Regulierungsbehörden, und es bestehen weiterhin potenziell große Unterschiede in den nationalen Überwachungspraktiken.
In seiner jüngsten Arbeit für Nordic Energy Research hat THEMA versucht, einige Beispiele für diese Unterschiede zu erklären. Wir haben uns die Unterschiede in den Überwachungsansätzen von ACER und den deutschen, französischen und polnischen Regulierungsbehörden genauer angesehen. Wichtig ist, dass die Arbeit deutlich zeigt, wie z.B. die deutsche nationale Regulierungsbehörde auf der Grundlage ihrer Methodik zu dem Schluss kommen kann, dass die deutschen ÜNB die Vorschriften einhalten, auch wenn die Überwachung durch ACER das Gegenteil vermuten lässt.
Die Arbeit unterstreicht die Notwendigkeit einer weiteren regulatorischen Entwicklung, wenn die derzeitigen Rechtsvorschriften sowohl die Versorgungssicherheit als auch eine einheitliche regulatorische Behandlung in den Mitgliedstaaten gewährleisten sollen. Der Bericht unterstreicht auch die Notwendigkeit, bei der Bewertung der Einhaltung der Vorschriften angemessene Grenzen für die Nutzung "virtueller Kapazitäten" zu ermitteln und zu beschreiben. Nach dem derzeitigen Rechtsrahmen können die Netzbetreiber auf dem Day-Ahead-Markt Kapazitäten anbieten, die dann zur Planung des zonenübergreifenden Handels genutzt werden, wobei dieser Handel jedoch wieder rückgängig gemacht werden kann, z. B. durch Gegengeschäfte auf dem Intraday-Markt. Das Ergebnis ist die Schaffung von "virtueller Kapazität", d. h. von Kapazität, die auf dem Day-ahead-Markt scheinbar vorhanden ist, aber nicht durch echte Übertragungskapazitäten gestützt wird.
In ihrer derzeitigen Ausgestaltung lassen die einschlägigen europäischen Rechtsvorschriften die Möglichkeit offen, dass diese virtuelle Kapazität unbegrenzt genutzt werden kann, was sowohl zu irreführenden Marktsignalen als auch zu überhöhten Systembetriebskosten führt. Auch wenn ein gewisses Maß an Flexibilität gerechtfertigt sein mag, um den Netzbetreibern bei der Verwirklichung ihrer Sicherheitsziele zu helfen, muss der Rechtsrahmen besser zwischen echten Verbesserungen der Fähigkeit zum Stromhandel zwischen den Zonen und der virtuellen Einhaltung der Vorschriften unterscheiden. Andernfalls wird er am Ende beides fördern und belohnen, obwohl es sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das effiziente Funktionieren des Energiebinnenmarktes hat.