Podiumsdiskussionen können bisweilen eine langweilige Angelegenheit sein, bei der die Diskutierenden ihre schon oft gehörten Argumente wiederholen, ohne dass eine Debatte in´s Laufen kommt. Manchmal jedoch stehen die Sterne (oder die Diskussionsteilnehmer) genau richtig, und eine zweistündige Diskussion vergeht wie im Flug. So war es auch bei der jüngsten Veranstaltung von THEMA und EWE am 13. Oktober. Insgesamt unterstrich die Diskussion die Notwendigkeit rascher, tiefgreifender Veränderungen in unserem Stromsystem.
Die fünf Podiumsteilnehmer - darunter Vertreter von Regierungen, Unternehmen und Think Tanks - diskutierten über die dringendsten Reformen, die notwendig sind, um einen vollständig erneuerbaren Strommarkt in Deutschland und der EU zu schaffen. Es diskutierten:
- Volker Oschmann, Leiter der Abteilung für Strom im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimapolitik
- Vera Brenzel, Direktorin für politische Angelegenheiten und Kommunikation bei TenneT,
- Torsten Maus, administrerende direktør i EWE NETZ GmbH, (DSO i Nord-Tyskland)
- Simon Müller, Direktor der Agora Energiewende Deutschland,
- Georg Zachmann, Senior Fellow bei Bruegel
Zusammen mit einem Publikum eingeladener Energieexpertinnen und -experten diskutierten sie in den EWE-Büros am Brandenburger Tor über die dringend notwendigen Reformen der deutschen und europäischen Strommärkte. Die gesamte Belegschaft von THEMA war gerade auf einem Strategieretreat in Berlin und daher ebenfalls anwesend.
Während draußen vor den Fenstern das „Festival of Lights“ bunte Zukunftsvisionen auf das Brandenburger Tor malte, überschatteten drinnen der russiche Einmarsch in die Ukraine und die darauf folgende Energiekrise die Veranstaltung. Dennoch wurde in der Diskussion eine detaillierte Auflistung der notwendigen Maßnahmen zur Lösung ebendieser Krise klar.
Auch durch Fragen aus dem Publikum angeregt, identifizierte und diskutierte das Podium eine Fülle von kleinen und großen Herausforderungen. So beruhen zum Beispiel derzeitige Genehmigungsverfahren auf der Annahme, dass der Status quo eine sinnvolle und potenziell zu bewahrende Situation ist. Diese Prämisse stimmt nicht mehr. Gleichzeitig brauchen wir nicht nur eine Menge neuer Transport-, Speicher- und Erzeugungsinfrastrukturen, sondern diese neuen Infrastrukturen müssen auch an geeigneten Standorten errichtet und gegen Cyber- und physische Angriffe gewappnet sein. Unterdessen driftet Europa in Bezug auf Subventionsregelungen und Preisschutzmaßnahmen langsam auseinander, was den gemeinsamen Energiemarkt zu untergraben droht und damit die Versorgungssicherheit ernsthaft gefährdet. Um die anstehenden Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen, bedarf es jedoch besserer Koordinierung und Zusammenarbeit.
Die Diskussionsteilnehmer einigten sich auf vier Grundsätze, die die Eckpfeiler der Bemühungen um die Lösung der derzeitigen und die Vermeidung künftiger Energiekrisen bilden sollten:
- Bauen, bauen, bauen: Der Status quo ist nicht mehr tragfähig. Wir müssen Anreize für Investitionen in das Netz, in die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien und in alle Arten von Flexibilitätsoptionen schaffen.
- Flexibilität schaffen: Die Flexibilität muss besonders betont werden, obwohl sie auch Teil des oben genannten Infrastrukturbedarfs ist. Das deutsche Wirtschaftsministerium schätzt zum Beispiel, dass allein in Deutschland 60 GW an flexiblen, mit Wasserstoff betriebenen Kraftwerken erforderlich sein werden. Darüber hinaus müssen die Netzkapazitäten ausgebaut werden, wobei den Netzbetreibern ein gewisser Einfluss auf die Nachfrage und Erzeugung in ihren Netzen eingeräumt werden sollte. EWE erläuterte, dass die Aktivierung von nur 5 % der Nachfrageflexibilität in ihrem Verteilernetz die Fähigkeit des Netzes effektiv verdoppeln würde, intermittierende erneuerbare Erzeugung zu integrieren. Eine stärkere Konzentration auf lokale Preissignale wäre zudem ein guter Weg, um Flexibilität zu belohnen und dafür Anreize zu schaffen, auch über nationale Grenzen hinweg.
- Integrierte Planung: Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, gehen über nationale Grenzen, Energieträger und Infrastrukturen hinaus. Daher müssen die Lösungen, die entwickelt werden, entlang all dieser Dimensionen gedacht werden. In der Praxis bedeutet dies: (i) Netzpläne und Preisobergrenzen nur auf nationaler Ebene zu betrachten, führt zu höheren Kosten und Emissionen; (ii) Wasserstoff und Strom müssen zusammen betrachtet werden - Wasserstoffpipelines könnten beim Energietransport von Nord- nach Süddeutschland zum Beispiel effizienter sein; (iii) Entscheidungen über den Netzausbau müssen mit Entscheidungen über den Ausbau erneuerbarer Energien verknüpft werden. In Deutschland wird das Netz allzu oft erst dann verstärkt, wenn die Überlastung bereits kritisch geworden ist. Das System sollte darauf abzielen, Engpässe von vornherein zu vermeiden, anstatt sie als Investitionsanreize zu nutzen.
- Energiesicherheit: Russland ist in aller Munde, wenn es um die Sicherheit der Energieversorgung geht. Um Gas zu ersetzen, sind seit dem Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine sind die deutschen Importe von Solarmodulen aus China stark gestiegen. Doch die Abhängigkeit von chinesischen Turbinen und Solarmodulen birgt ein weiteres Versorgungsrisiko. Der Chef des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) hat es kürzlich so formuliert: "Russland ist der Sturm, China ist der Klimawandel." Die EU sollte sich auf ihre gut entwickelten Klimapläne stützen, um ihre industrielle Energiepolitik voranzutreiben (vgl. den US Inflation Reduction Act.) und damit sicherzustellen, dass die für die Energiesicherheit entscheidenden Elemente aus der EU geliefert werden können. Mehrere Diskussionsteilnehmer betonten auch die Notwendigkeit, die Energieinfrastruktur vor Cyberangriffen zu schützen.